
Offen gesagt ist dieses Buch schwach. Teilweise so schwach, dass ich meine Worte mit größter Vorsicht wählen muss, um die Verdienste des Autors nicht zu schmälern. Die folgende Analyse bezieht sich ausschließlich auf dieses Buch und nicht auf alle Bücher des Autors – und schon gar nicht auf ihn persönlich.
Über den Autor
Ein paar Worte zum Autor. Viktor Frankl war ein österreichischer Psychologe, der während des Zweiten Weltkriegs in Konzentrationslagern inhaftiert war und überlebte. Er gilt als Begründer der Logotherapie. Im Gegensatz zu Freud (Trieb nach Lust) oder Adler (Wille zur Macht) sah Frankl im Sinn den wichtigsten Antrieb des Menschen. Er nannte seine Methode „Logotherapie“ – vom griechischen „Logos“ (Wort, Sinn), was auch die Bedeutung von Sprache und Dialog unterstreicht. Er betonte, dass seine Methode kein Widerspruch zu Freud oder Adler sei, sondern eine Ergänzung.
Struktur
Nun zur Struktur des Buches. Es lässt sich grob in drei Teile gliedern: die Grundlagen der Logotherapie, die Erfahrungen in den Konzentrationslagern und die Reflexion über den Sinn des Lebens. Der Teil über die Lager ist problemlos – er ist am einfachsten zu lesen, löst Empathie aus und führt nicht zu Missverständnissen. Die anderen beiden Teile enthalten viele Schwächen. Die Übergänge sind oft verschwommen, und man weiß nicht genau, wo ein Abschnitt endet und ein neuer beginnt. Insgesamt ist die Struktur jedoch ausreichend, um eine gewisse Logik zu wahren.
Nachteile
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Der erste Teil ist äußerst schwer zu lesen. Er wirkt eher für Psychologen als für normale Leser geschrieben (und selbst für Fachleute ist es nicht leicht). Der Text ist voll von Fachausdrücken und schwer verständlichen Formulierungen. Die Übersetzung mag eine Rolle spielen, aber ich glaube, das Problem liegt bereits im Original. Zum Beispiel:
„Er ruht auf einer polaren Struktur des Spannungsfeldes, das zwischen Objekt und Subjekt besteht und eine Voraussetzung für Erkenntnis ist. Kurz: Die Dynamik dieses Spannungsfeldes enthält das Wesen der Sinn-Dynamik.“
„Mir scheint, dass die Weltprojektion keine Projektion der subjektiven Welt, sondern ein subjektiver Schnitt durch die objektive Welt ist.“
„Der eigentliche Gegensatz besteht nicht zwischen Determinismus und Indeterminismus, sondern zwischen Pan-Determinismus und Determinismus.“
„Ist das Ich Desoxycorticosteronacetat?“
„Geistiges Dasein kann nicht nur mit dem anderen, sondern vor allem mit einem ebenso geistigen anderen ‚anderen‘ koexistieren. Diese Koexistenz zweier geistiger Existenzen nennen wir ‚Koexistenz‘.“
- Das Buch enthält kaum visuelle Hilfsmittel. Das ist zwar kein Muss, aber bei einem so schwer verständlichen Text hätten Abbildungen oder Diagramme sehr geholfen.
- Ich versuche immer, meine Gedanken in einfachen Analogien auszudrücken. Dieses Buch zeigt, wie eine schlechte Analogie das Verständnis erschweren kann. Auch der Autor verwendet zugängliche Bilder (wie räumliche Dimensionen), aber wenn Geisteswissenschaftler Begriffe aus der Naturwissenschaft übernehmen, wird es oft unfreiwillig komisch.
- Das Buch ist religiös gefärbt. Obwohl der Autor betont, dass Sinnsuche nicht zwangsläufig mit Religion verbunden ist, ist er selbst tief gläubig geworden und kann sich eine Welt ohne Gott nicht vorstellen. Er kritisiert Freud und andere oft, aber seine eigenen Annahmen hinterfragt er kaum.
- Der Autor spricht über Sinn in Liebe, Arbeit, Leiden und Tod. Selbst wenn man ihm zustimmt, ist nicht klar, warum gerade diese Themen ausgewählt wurden. Wahrscheinlich spiegeln sie seine Lebenserfahrung wider. Aber es gibt viele weitere Lebensbereiche, über die er schweigt – vermutlich, weil ihm selbst die Erfahrung fehlt.
Vorteile
- Das Buch ist nicht völlig nutzlos. Die Idee der „existentiellen Leere“ – eines Verlusts an Lebenssinn – ist real und aktuell. Womöglich konnte Freud oder Adler diese nicht angemessen behandeln.
- Es enthält viele interessante Gedanken, auch wenn sie oft vom Thema abschweifen – ich stimme ihnen aber in vielem zu.
- Trotz der Leseschwierigkeit enthält das Buch viele tiefgründige Gedanken. Auch wenn ich nicht immer zustimme, kann ich den Autor verstehen und respektieren. Seine Ideen verdienen es, gelesen und durchdacht zu werden. Ob man sie übernimmt, ist jedem selbst überlassen.
- Die zentrale These – dass der Sinn die treibende Kraft des Menschen ist und man mit Sinn alles ertragen kann – ist kaum zu widerlegen.